Es gibt Unternehmen, deren innere Führung fest in der Hand von Mitarbeitern ist, die gelernt haben, ihre Führungskräfte in ihrem Sinne zu instrumentalisieren. Es gibt Unternehmen, deren operative Führungsebene die Produktherstellung und -vermarktung so weit selbst im Griff hat, dass sie mit der Überzeugung agieren kann, "uns ist es egal, wer uns und das Unternehmen gerade führt". Ob ein Unternehmen auf dem Weg zu diesem extremen Zustand ist, kann man z.B. an folgenden Beobachtungen erkennen:
- Häufige personelle Veränderungen in der Unternehmensleitung
- Gewünschte Veränderungen dringen nicht bis zur untersten Mitarbeiterebene durch
- Das Thema Führung wird zu einem zentralen Problem erklärt
- Durch Umstrukturierungen wird alle ein bis drei Jahre versucht, Führungspositionen mit Personen zu besetzen, die besser mitziehen
- Changemanagementprogramme mit motivierenden Überschriften werden aufgesetzt
- Visionen mit "Wir sind die Besten/Größten/Schnellsten..." werden verkündet
- Immer wieder neue Berater kommen und gehen
- Beraterdiagnosen werden mehr geglaubt, als internen Situationsanalysen
- Über den Flurfunk werden offen Zweifel an der Unternehmensleitung ausgetauscht
Je mehr diese Beobachtungen zutreffen, umso größer wird die Kluft zwischen der Unternehmensleitung und den Führungskräften/Mitarbeitern. Ein besonders wirksamer Treibstoff für die Vergrößerung dieser Kluft sind die offenen und verdeckten Vorwürfe, die implizit mit Top-Down-Veränderungsversuchen kommuniziert werden.
In vielen Fällen beruhen Veränderungsprojekte auf einer problemorientierten Sicht der Führungskräfte und Mitarbeiter, wonach problematische Zustände und Personen durch bessere ersetzt werden müssen. Bei denjenigen, die sich als Problem identifiziert sehen, stellt sich dadurch eine Abwehrhaltung ein, z.B. in Form von Unverständnis, Verweigerung, Dienst nach Vorschrift, Schuldzuweisung an andere und Verbreitung negativer Gerüchte über den Flurfunk.
Mit jedem Versuch Veränderungsprozesse zu starten, um weitere Probleme zu lösen, wird die Abwehrhaltung gegen diese Veränderungsversuche stärker. Gleichzeitig zeigt sich die Abwehrhaltung immer weniger direkt und versteckt sich z.B. hinter oberflächlichem Committment. Zusätzlich wirken eine Reihe von Faktoren verstärkend auf diese immer schwerer ansprechbare Abwehr gegen Veränderungen, z.B.
- Pauschalurteile über bestimmte Unternehmensbereiche oder Hierarchiestufen
- Kritik über die Zustände in der Unternehmensleitung von Mitgliedern der Unternehmensleitung oder von Führungskräften, die öfter an den Sitzungen der Unternehmensleitung teilnehmen
Problembeschreibungen aus der Unternehmensleitung, bei denen sich die Unternehmensleitung selbst ausklammert
- Aufbau und Kommunikation von Drohszenarien über Berater
Aus den oben beschriebenen Stationen und den Verstärkern der Negativspirale entsteht über Jahre hinweg der Zustand "sie machen nicht, was vereinbart und uns wichtig ist" mit einem immer schwerer durchschaubaren Geflecht an Ursachen.
Der am stärksten wirkende Antreiber der Negativspirale sind pauschale Problembeschreibungen von Abteilungen, Bereichen und Hierarchieebenen im Unternehmen. Aussagen, wie z.B. "Der Verkaufsbereich zieht immer mit, aber aus der Produktion kommt meistens Widerstand" stimmen nur selten mit der Realität überein. Solange das ignoriert wird, haben diese pauschalen Bewertungen von größeren Gruppen in Organisationen immer wieder die gleiche Wirkung. Ein Teil der Gruppe ist sich sicher, dass sie nicht gemeint sind, ein anderer Teil der Gruppe fühlt sich betroffen und hofft, in Ruhe gelassen zu werden und ein weiterer Teil der Gruppe ist unsicher, ob sie gemeint sind und fängt an zu spekulieren, was auf sie zukommt.
Genau betrachtet sind es in dem oben genannten Beispiel bestimmte Personen im Verkauf, die bei Veränderungen immer vorne mit dabei sind und bestimmte Personen in der Produktion, die sich gegen Veränderungen wehren. In vielen Fällen sind es immer wieder die gleichen Personen und jeder in den Bereichen weiß, wer diese Personen sind. Der Anteil der Personen, die nicht mitziehen, ist auf der operativen Ebene höher als auf allen anderen Hierarchieebenen. Das heißt die Führungskräfte der operativen Ebene sind wesentlich mehr gefordert als ihre Kollegen. Aus der Perspektive der Unternehmensleitung wird dies oft unterschätzt, da die direkte Sicht auf die operativen Mitarbeiter durch die unter der Unternehmensleitung liegenden Führungsebenen verstellt ist.
Je größer ein Unternehmen ist, desto schwieriger ist es für eine Unternehmensleitung sich selbst ein klares Bild über den Zustand auf der operativen Ebene zu machen. Die Schwierigkeit steigt je mehr folgende, verdeckt wirkenden Überzeugungen und Prozesse beobachtbar sind:
- Führungskräfte müssen ihre Mitarbeiter vor personellen Veränderungen schützen, die "von oben" initiiert wurden
- Führungskräfte müssen aus Selbstschutz ihr eigenes Fehlverhalten und das ihrer Mitarbeiter decken
- Mitarbeiter instrumentalisieren ihre Führungskräfte mit Gerüchten und Kritik an den oberen Führungsebenen
Vor diesem Hintergrund wird klar, warum Top-Down geführte Veränderungsprozesse nicht nur häufig scheitern, sondern diese verdeckt wirkenden Prozesse ungewollt festigen und verstärken. Eine Umkehr der Negativspirale "sie machen nicht, was vereinbart und uns wichtig ist" kann also nur von der operativen Ebene aus angegangen werden. Für das Gelingen dieses Bottom-Up-Ansatzes ist Offenheit und Unvoreingenommenheit entscheidend. Hypothesen und Überzeugungen dazu, welche Probleme auf der operativen Ebene adressiert werden sollen, wirken wie ein Top-Down-Ansatz.
Die Blickrichtung des Bottom-Up-Ansatzes geht hin zur Unternehmensleitung und nicht weg von ihr. Dies ist ein gravierender Unterschied.
Erst ohne pauschale Vorurteile, Problembeschreibungen und Hypothesen wird es möglich, sich auf das konkrete und individuelle Geschehen auf der operativen Ebene zu konzentrieren.
Sobald alle Führungskräfte der operativen Ebene gelernt haben, mit ihren Mitarbeitern unvoreingenommen und konkret umzugehen, werden sie folgende Entdeckung machen: Es geht selten um psychische Gründe für inakzeptable Verhaltensmuster, sondern meistens um inakzeptable Gewohnheiten bei Verhaltensweisen, die für die tägliche Zusammenarbeit selbstverständlich sind, z.B.
- Pünktlich zu Terminen zu erscheinen
- Keine Zusagen zu geben, die man nicht halten kann
- Konstante Anwendung wichtiger organisatorischer Hilfsmittel, z.B. Checklisten und Leitfäden
- Pflege von Kundendaten und auswertbare Dokumentation von Kundengesprächen
Über jede einzelne Abweichung von diesen Selbstverständlichkeiten könnte man großzügig hinwegsehen, vor allem, wenn es gute Entschuldigungen dafür gibt. Jedoch die Vielzahl dieser kleinen Fehler summiert sich zu gravierenden Fehlentwicklungen, z.B. zum Scheitern wichtiger Projekte, zu langen Lieferzeiten und zu Budgetüberschreitungen. Deshalb kann das Adressieren und Ändern dieser inakzeptablen Gewohnheiten nur durch die gesamte operative Führungsebene erfolgen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, dass die operative Führungsebene beim Lernen und Üben im unvoreingenommenen Umgang mit den "kleinen Fehlern" ihrer Mitarbeiter nicht mit Führungskräften aus anderen Hierarchieebenen vermischt wird. Jede Mischung mit Kollegen aus anderen Führungsebenen öffnet die Tür für eine Umkehr zur Top-Down-Sicht und den entsprechenden Möglichkeiten, Fehler zu verstecken. Für die Führungsebenen, die hierarchisch über der operativen Führungsebene liegen, folgt aus dem Bottom-Up-Vorgehen, dass sie sich mehr auf die Unterstützung ihrer Kollegen auf der gleichen Führungsebene sowie der übergeordneten Führungskräfte konzentrieren. Auf dieser Weise tragen alle dazu bei, die Negativspirale umzukehren.
Herausgeber & Copyright: Johann Leitl
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