Angenommen in einem Unternehmen sind die klassischen Wachstumspotentiale weitestgehend ausgeschöpft. Gleichzeitig ist eine zunehmende Gefährdung und Erosion des Hauptgeschäfts erkennbar. Es ist jedoch nicht sicher, wie schnell und in welchem Umfang die Erosion ablaufen wird. Die häufigste Strategie, auf die Erosion des Geschäfts zu reagieren ist eine Dauer-Schrumpfkur kombiniert mit Durchhalteparolen und einer Intensivierung der Marketing und Vertriebsaktivitäten. Vor allem die Umsatzsteigerungsstrategien sind auf den ersten Blick einem Neu-Erfinden sehr ähnlich, wirken jedoch nur oberflächlich. Typische Beispiele für diese halbherzigen Strategien sind:
- Marken-Relaunches mit optimierter Positionierung und modernem Erscheinungsbild
- Neue Verpackungen/Produktkombinationen
- Verbesserung und Intensivierung der verkäuferischen Leistung
- Differenzierung vom Wettbewerb durch neue, antrainierte, kundenfreundliche Verhaltensweisen im gesamten Unternehmen
Unternehmen, die eine oder mehrere dieser Strategien anwenden, werden nach einiger Zeit feststellen, dass sie sich damit nur Zeit gekauft haben und den Umfang der Erosion des Hautpgeschäfts nur teilweise kompensieren konnten. Die Messlatte, sich neu zu erfinden, hängt viel höher und kann nur an dem Anteil des Geschäfts mit neuen Produkten und Dienstleistungen gemessen werden, die vorher noch nicht am Markt angeboten wurden. Erst wenn 30%-50% des Geschäfts mit neuen Produkten und Dienstleistungen innerhalb von 3-5 Jahren erzielt werden, kann von echtem Neu-Erfinden gesprochen werden. Dies ist ein unvorstellbar hohes Ziel, insbesondere für Unternehmen, die sich noch nie mit der Erreichung derartiger Ziele beschäftigt haben. Zweifel an der Erreichbarkeit dieses Ziels sind entsprechend hoch. Es gibt jedoch eine Reihe bekannter Unternehmen, wie z.B. Lego, Leica oder die Deutsche Verkehrsbank, die dieses Ziel trotz Zweifel und Rückschlägen erreicht haben. Bei jedem dieser Unternehmen ging es nicht nur um eine Steigerung der Innovationskraft und der Kreativität, sondern insbesondere um eine Haltung und um Eigenschaften, die man am häufigsten bei erfolgreichen Unternehmen findet. Mit Unternehmern sind hier nicht nur Inhaber gemeint, sondern, wie die oben genannten Unternehmensbeispiele zeigen, auch angestellte Manager.
Echte, unternehmerische Ziele, hinter denen ein starker persönlicher Wunsch eines Unternehmers steht, haben die besondere Eigenschaft, dass sie am Anfang des Weges sehr oft unerreichbar erscheinen. Das trifft auch auf das Ziel zu, ein Unternehmen in großem Umfang neu zu erfinden. Sehr oft fehlt zu Beginn ausreichend Kapital, erfahrenes Personal und die ersten, neuen geschäftlichen Projekte reichen nur für einen Bruchteil der Zielerreichung. Menschen mit unternehmerischer Orientierung können die Spannung dieser hohen, ungelösten Diskrepanz zwischen ihrem Ziel und der schwierigen Ausgangslage länger aushalten, als Manager mit einer Problemlöser-Orientierung. Bei der unternehmerischen Orientierung kommt der Antrieb aus dem eigenen Wollen, die Zukunft des Unternehmens zu gestalten und nicht aus einem reaktiven Zwang, mit einem großen Problem fertig werden zu müssen. Unternehmer agieren aus einem tiefen Verständnis dessen, wofür das Unternehmen steht. Dies ist die wesentliche Grundlage für ihr Gespür, neue geschäftliche Ansätze zu erkennen und zu ergreifen. Aus ihrer Verantwortung für ihr Unternehmen stellen sich Unternehmer bewusst die Entscheidungsfrage, ob sie die Erneuerung wirklich wollen oder nicht. Je unklarer mit dieser Entscheidung umgegangen wird, umso größer ist das Risiko, dass die Erneuerung nach den ersten Rückschlägen oder Verzögerungen nicht mehr konsequent fortgesetzt wird. Ähnlich wie bei der Gründung eines Unternehmens rechnen Unternehmer auch bei der geschäftlichen Erneuerung des Unternehmens nicht mit einem kurzfristigen ROI. Damit geben sie ihrem Management Sicherheit sowie das Signal, Freiräume zu nutzen und realistisch mit Rückschlägen umzugehen.
wird sich an den Grundsatz "Evolution, statt Revolution" halten müssen. Aber je konsequenter die evolutionäre Erneuerung vorangetrieben wird, umso höher ist die Wahrscheinlichkeit, dass dies zu revolutionären Neuerungen führt. Deshalb ist "Evolution mit System" ein geeigneteres Vorgehensmodell für den Weg des Neu-Erfindens. Im Folgenden sind einige Elemente dieses Systems aufgeführt:
- Pioniere, d.h. Manager und Mitarbeiter, die es verstehen Neues mit Erfolg umzusetzen
- Forschungs- und Entwicklungsbudgets für neue, gegebenfalls getarnte Projekte
- Enge Zusammenarbeit mit Kunden, die gerne zu den ersten Käufern bei neuen Angeboten gehören
- Abgrenzbare Kunden- oder Regionalbereiche, in denen Erfahrungen mit neuen geschäftlichen Angeboten gemacht werden können
- Kontinuierliche Vernetzung und Austausch über die Erfahrungen mit dem, was neu gemacht wird
Besonders beachtenswert ist in diesem Zusammenhang, dass es bei der "Evolution mit System" nicht darum geht die Kreativität zu steigern, sondern darum, die Effektivität zu steigern. Kein Unternehmen kann es sich leisten, in einer erfolgskritischen Lage auf Kreativität und Begeisterung, d.h. auf viele Ideen und eine entsprechend hohe Ausschussquote zu setzen.
Wesentlich wichtiger ist es, gezielt neue geschäftliche Angebote für ausgewählte Zielgruppen zu realisieren, aus deren Anwendung zu lernen, das Gelernte zügig in Verbesserungen umzusetzen und die verbesserten Angebote erneut zu testen, zu verbessern, etc... Ein Unternehmen in wesentlichen Teilen neu zu erfinden hat mehr mit Disziplin und schnellem Lernen zu tun, als mit Begeisterung und Innovationsfreude. Letzteres kommt von selbst, je mehr das Neue gut gelingt.
Im Prinzip ist das Ziel, ein Unternehmen größtenteils neu zu erfinden vergleichbar mit dem Umbau oder Neubau eines Gebäudes. Der Zweck des Gebäudes muss mit der Architektur, der inneren Struktur und der Einrichtung möglichst gut übereinstimmen, damit das Geschehen in dem Gebäude lebendig, effektiv und produktiv ist. In gleicher Weise kann das Ziel, weite Teile eines Unternehmens neu zu erfinden nur dann erreicht werden, wenn entsprechende strukturelle Voraussetzungen geschaffen werden. Mit strukturellen Voraussetzungen sind hier nicht Organisationsstrukturen gemeint, sondern strukturell wirkende, fest etablierte Ziele, Hierarchien, Interessen, Verhaltensgrundsätze, Werthaltungen und Gewohnheiten, die das Führungs- und Entscheidungsverhalten im Unternehmen beherrschen. Je länger diese strukturellen Prägungen bereits im Unternehmen herrschen, umso weniger bewusst sind sie. Deshalb ist das Wiederherstellen einer bewussten Kenntnis der strukturellen Konstellation im Unternehmen Grundvoraussetzung dafür, um davon ausgehend die strukturelle Konstellation neu zu gestalten. Dieser Gestaltungsprozess ist Aufgabe der Unternehmensleitung und kann nicht delegiert oder demokratisiert werden. In einem ersten Schritt werden alle Elemente der Ist-Struktur, ihr Zusammenwirken und die Folgen daraus visualisiert. Am Ende dieses Schrittes wird das aktuelle Geschehen im Unternehmen simulierbar und vorhersagbar. Dies ist zugleich der Beweis für die Wirkung der strukturellen Bedingungen im Unternehmen. In einem zweiten Schritt folgt ein Denk- und Entscheidungsprozess, in dem die einzelnen, strukturell wirkenden Elemente und deren Konstellation zueinander neu geordnet werden. Die Antworten auf die Frage "was ist wichtig im Unternehmen?" werden im Hinblick auf das Ziel des Neu-Erfindens neu geordnet und gewichtet. Sobald diese Neuordnung feststeht, folgt die Übersetzung ins tägliche Unternehmensgeschehen. Zum Beispiel werden sich einige Punkte im täglichen Vorgehen der Mitglieder der Unternehmensleitung ändern, die Agenda der Geschäftsleitungssitzungen wird sich in einigen Punkten ändern, einige Entscheidungen werden vorgezogen oder verschoben, Projekte werden neu ausgerichtet, etc. Damit steuert die Unternehmensleitung den Prozess des Neu-Erfindens sowohl direkt, z.B. über neue geschäftliche Angebote, als auch indirekt über eine neue strukturelle Richtung für das Führungs- und Entscheidungsverhalten im Unternehmen.
Herausgeber & Copyright: Johann Leitl
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