Grundlegende Voraussetzung für das Erreichen unserer Ziele ist das klare Erkennen und Anerkennen der Realität. Das Navigieren von Schiffen ist dafür ein gutes Beispiel. Legt der Kapitän einen Kurs fest, der auf einer falschen Standortbestimmung basiert, dann fährt er garantiert am Ziel vorbei. Genauso verhält es sich mit dem Erreichen von Zielen in Organisationen und im Privatleben. Wer nicht von Tatsachen, sondern von unrealistischen Annahmen ausgeht, wird sich für unpassende Strategien entscheiden und seine Ziele verfehlen. Wenn der Ausruf: "Das kann doch nicht sein!" fällt, oder auch nur gedacht wird, ist das ein klarer Hinweis auf unrealistische Annahmen. Dieser Satz deutet darauf hin, dass man z.B. eine kritische Erfahrung in der Zusammenarbeit mit einem Kollegen einfach nicht wahrhaben will. Als Folge davon kämpft man einen frustrierenden Kampf gegen seine eigenen Annahmen über den Kollegen. Wie kommen wir dazu, solche aussichtslosen Kämpfe zu führen? Ein möglicher Grund ist, dass unsere Annahmen zu festen Überzeugungen werden, die sich wie eine verzerrende Brille vor den klaren Blick auf die Tatsachen schieben. Oft haben wir diese Überzeugungen ungeprüft von Vorbildern übernommen. Oft haben wir sie jedoch selbst entwickelt - wir "wissen", wie andere Menschen sein und sich verhalten sollten oder wir haben idealisierte Vorstellungen von uns und unserem Können. Wer davon überzeugt ist, eine ideale Führungskraft zu sein, wird Kritik an seinem - in der Realität gar nicht idealen - Verhalten ignorieren oder mit einer Logik rechtfertigen, die nur er versteht. Der Schaden ist hoch, wenn das Management von Unternehmen an unrealistischen Annahmen festhält. Ziele werden nicht oder nur mit unverhältnismäßig hohem Aufwand an Arbeit und Geld erreicht. Die Suche nach den Gründen führt nicht selten zu weiteren unrealistischen Annahmen und Überzeugungen. So schwinden die Chancen, die gewünschten Ergebnisse doch noch zu erzielen. Grund genug regelmäßige Reality Checks vorzunehmen, um solche Überzeugungen zu entdecken und zu überprüfen.
In den folgenden Beispielen wird anschaulich, wie sich unrealistische Annahmen bei Veränderungsprozessen in Unternehmen auswirken können:
Hinter dem Wunsch beim Start eines Veränderungsprozesses die drängendsten Probleme zuerst zu lösen, steckt die unrealistische Annahme, möglichst gleich zu Anfang beeindruckende Erfolge zu erzielen. Die Erfolge sollen uns versichern, dass wir das Veränderungsziel erreichen. In Wirklichkeit sind Veränderungsprozesse herausfordernde Lernprozesse und Lernprozesse beginnen nicht mit den schwierigsten Herausforderungen. Sicherheit, ob wir unser Ziel erreichen, haben wir erst, wenn wir es erreicht haben. Ein Management, das die Situation realistisch sieht, wird zuerst die machbaren Veränderungen angehen und später die schwierigeren. Realistisch ist es auch, dabei die Unsicherheit auszuhalten, ob man die Ziele erreicht, bis sie erreicht sind.
Hinter dem Wunsch nach einem Training oder Coaching solle sich sofort etwas ändern, steckt die unrealistische Annahme, dass das Gelernte sofort und richtig umgesetzt wird. In Wirklichkeit brauchen Menschen genug Zeit und Gelegenheiten, das Gelernte auszuprobieren und aus Fehlern zu lernen. Ein Management, das die Situation realistisch sieht, wird den Mitarbeitern in der ersten Anwendungsphase Zeit lassen und ihnen Möglichkeiten zur Reflexion über individuelle Umsetzungsprobleme anbieten.
Hinter dem Wunsch, die Führungskräfte sollen im Auftrag der Unternehmensleitung die Mitarbeiter zu effizienter Zusammenarbeit anhalten, steckt die Annahme, weder Unternehmensleitung noch Führungskräfte selbst würden zur Ineffizienz beitragen. In Wirklichkeit führen Silo-Denken, Zielkonflikte, individuelle Profilierungsstrategien und Ad-hoc-Verschiebung von Gesprächsterminen zu erheblichem Mehraufwand für die Mitarbeiter, auf den sie gar keinen Einfluss haben. Ein Management, das die Situation realistisch sieht, wird konkrete Fälle unbefriedigender, funktionsübergreifender Zusammenarbeit unter den Mitarbeitern unvoreingenommen analysieren und den Einfluss des Managements transparent machen.
Hinter dem Wunsch, konkurrierende Ziele, wie z.B. Wachstum und Gewinnmaximierung auszubalancieren, steckt die unrealistische Annahme, man könne beides gleichzeitig erreichen. In Wirklichkeit zeigt es sich spätestens auf der untersten Hierarchieebene, dass ein Ausbalancieren von Zielkonflikten nicht funktioniert. In dem Zielkonflikt von Wachstum und Profitabilität müssen sich am Ende die Verkäufer entscheiden, ob sie mehr Geschäft oder eine höhere Marge erzielen wollen. Beides zugleich ist nicht realisierbar. Ein Management, das die Situation realistisch sieht, wird Prioritäten setzen und ein Ziel dem anderen unterordnen, z.B. indem es durch Investitionen in Wachstum bewusst eine Reduzierung des Gewinns in Kauf nimmt.
Hinter dem Wunsch, durchschnittliche Mitarbeiter ließen sich durch Prämien für die Besten zu zusätzlichen Anstrengungen motivieren, steckt die unrealistische Annahme, man könne diese Mitarbeiter mit finanziellen Anreizen dazu bringen, langfristig ihre Leistung zu verbessern. In Wirklichkeit hören die Mitarbeiter mit zusätzlichen Anstrengungen auf, sobald diese nicht sofort zu besseren Ergebnissen führen. Ein Management, das die Situation realistisch sieht, wird für diejenigen, die immer zu den Besten gehören, ein Sonderbudget reservieren und den Zweitbesten sowie den Durchschnittlichen individuell herausfordernde Aufgaben geben, deren Erfüllung ebenso individuell belohnt wird.
Hinter dem Wunsch, mit der Neubesetzung einer Führungsposition bessere Ergebnisse zu erzielen, steckt die Annahme, eine bessere Qualifikation und eine passende Persönlichkeitsstruktur würden dafür ausreichen. In Wirklichkeit sind es subtilere Verhaltensmuster in den betreffenden Organisationseinheiten, die die Leistung der dafür verantwortlichen Führungskraft mitbestimmen. Diese kann wesentlich beeinträchtigt werden, wenn die Mitarbeiter gelernt haben, jeden neuen Vorgesetzten für ihre Interessen zu instrumentalisieren. Ein Management, das die Situation realistisch sieht, kann mit Hilfe einer Befragung von langjährigen und erfahrenen Mitarbeitern diese Verhaltensmuster aufdecken und die neue Führungskraft dabei unterstützen, diese Verhaltensmuster zu beenden. In jedem Unternehmen lassen sich mühelos weitere Beispiele für unrealistische Annahmen und deren Folgen finden.
Wunsch und Wirklichkeit bei persönlichen Veränderungen
Nicht nur in Organisationen, sondern auch bei persönlichen Veränderungen wirken sich unrealistische Annahmen negativ auf die Zielerreichung aus:
Hinter dem Wunsch nach einer besseren Zusammenarbeit mit einem schwierigen Kollegen steckt die unrealistische Annahme, der Kollege solle sich zuerst ändern, um diesen Wunsch zu erfüllen. In Wirklichkeit verändert sich der schwierige Kollege nur, wenn er das selbst will. Obwohl sich das schwierige Arbeitsverhalten des Kollegen nicht ändert, versuchen wir trotzdem immer weiter, ihn dazu zu bringen. Am Ende verzichten wir resigniert auf die Zuarbeit des Kollegen und erledigen dessen Aufgabe. Wer die Situation realistisch sieht, weiß, dass man dann nur noch mit einer Veränderung der eigenen Haltung oder des eigenen Verhaltens eine Chance hat, an der Zusammenarbeit mit dem Kollegen etwas zu verändern.
Hinter dem Wunsch, ein guter Problemlöser zu sein und damit alle Probleme endgültig und dauerhaft zu lösen, steckt die unrealistische Annahme, man müsse nur alle Ursachen beseitigen, damit die Probleme dauerhaft gelöst sind. In Wirklichkeit lassen die Anstrengungen nach, sobald die ersten erkannten Ursachen beseitigt wurden und das Problem taucht in anderer Form erneut auf. Wer die Situation realistisch sieht, weiß, dass es wichtiger ist, sich zuerst über eigene Ziele im Klaren zu sein, als sich auf Probleme zu fixieren. Damit kann man sich nur noch um die Probleme kümmern, die für die Zielerreichung relevant sind und man muss sich nicht mehr verzetteln.
Hinter dem Wunsch, einen Zustand, mit dem man gerade zufrieden ist, lange zu erhalten, steckt die unrealistische Annahme, diesen Zustand dauerhaft aufrecht erhalten zu können. In Wirklichkeit verändern und entwickeln sich die Umstände einer konkreten Situation ständig weiter und wir können diese Entwicklung nur teilweise beeinflussen. Je länger wir die Störungen unserer Zufriedenheit durch neue Entwicklungen ignorieren, umso größer werden die Hürden, die anstehende Erneuerung anzugehen und zu bewältigen. Wer die Situation realistisch sieht, weiß, dass es erforderlich ist, sich immer wieder genau die Dinge näher anzusehen, die stören. Daraus können wir erkennen, woran wir festhalten.
Originäres Denken für eine klare Sicht auf die Realität
Unrealistische Annahmen entstehen häufig aus Situationen, in denen wir negativ überrascht werden und wir uns das Geschehen nicht gleich erklären können. Dann beginnen wir, Hypothesen aufzustellen, Vergleiche mit ähnlichen Situationen zu ziehen, zu spekulieren oder Theorien von anderen zu übernehmen. Wie bereits oben beschrieben, können sich daraus Überzeugungen entwickeln, die unsere Sicht auf die Realität verzerren. Wie können wir das verhindern? Indem wir eine unvoreingenommene Haltung einnehmen und unser Denken ständig trainieren. Unser Verstand sucht immer den Weg des geringsten Widerstandes. Das heißt z.B., möglichst schnell Antworten auf Erlebnisse zu finden, die wir uns nicht gleich erklären können. Wir sind dem jedoch nicht ausgeliefert, sondern wir können uns in diesen Momenten entscheiden, ob wir das zulassen oder stattdessen originär denken. Das bedeutet, die Realität wie ein Original ohne Vergleiche, Bewertungen, Annahmen oder Hypothesen zu betrachten. Wir betrachten ausschließlich das, was ist. Damit ist alles gemeint, was geschieht, was gemacht und was gedacht wird. Es wird nichts hinzugedichtet oder gedeutet. So können wir unrealistische Annahmen, die unseren Zielen im Weg stehen, entlarven oder sie gar nicht erst zulassen. Und so verbessern wir deutlich unsere Kompetenz, eigene Ziele zu erreichen und darauf mit neuen Zielen aufzubauen.
Herausgeber & Copyright: Johann Leitl
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