Auf die Frage "Wie führen Sie?" hat mir eine Führungskraft in einem Führungstraining das Folgende erzählt: "Es gibt Tage, an denen weiß ich beim Frühstück zuhause noch nicht genau, womit ich mein Team beschäftigen soll. Dann muss ich, sobald ich in die Firma komme, nur eine finstere Miene aufsetzen und schon bekomme ich Aufmerksamkeit und ich werde gefragt, ob es ein Problem gibt. Jetzt muss ich nur antworten: Ja, ich finde, der Auftrag X sollte schon fertig sein oder ich bin vom Ergebnis der letzten Woche enttäuscht oder ich erwähne irgendein anderes Problem und schon kann ich mit Sicherheit davon ausgehen, dass mein Team darüber spricht und sich alle im Team damit beschäftigen."
Führen mit Problemen ist sehr beliebt bei Führungskräften. Probleme sind leicht zu vermitteln. Meist kommen nicht einmal Nachfragen. Man kann mit Problemen relativ einfach Beschäftigung schaffen und Druck aufbauen. Die Risiken sind beherrschbar, denn das Risiko, sich mit "falschen" Problemen zu beschäftigen ist eher gering. Sollte bei einem Problemlösungsversuch nicht viel herauskommen, stehen genug neue und noch größere Probleme parat, auf die man hinweisen kann. Wer Karriere machen will, findet es besonders spannend, dabei zu sein, wenn wieder neue große Probleme angegangen werden. Die Folgen der problemorientierten Führung sind jedoch weniger spannend: Überlastung, Konflikte und am Ende mehr Verlierer als Gewinner. Der Titel eines populären Kurz-Videos bringt es auf den Punkt: "Busy is the new stupid". Aber wie soll man etwas anders machen, wenn man keine Alternative kennt?
Bevor wir uns der möglichen Alternative zuwenden, müssen wir einen klaren Blick auf die Folgen der problemorientierten Führung richten: Besonders in großen Veränderungsprojekten kann diese Form der Führung erheblichen Schaden anrichten. Mittel und Ressourcen werden verschwendet und am Ende ist nichts gelöst. Die Ursache dafür liegt in der Motivationsdynamik, die dem Problemlösen zu Grunde liegt: Zu Beginn ist die Motivation hoch, das Problem los zu werden. Dafür werden Maßnahmen ergriffen, die den Problemdruck reduzieren. Sobald der Druck nachlässt, verringert sich jedoch naturgemäß auch das Engagement. Das Problem wird also nur ansatzweise gelöst und nach einiger Zeit taucht es in alter Stärke wieder auf. Dieses oszillierende Muster kann sich bei großen Projekten über mehrere Jahre hinziehen, ohne in seiner Wirkung erkannt zu werden. Die Problemorientierung ist nicht geeignet, etwas aufzubauen, das langfristig Bestand hat. Da hilft nur ein grundlegender Wechsel der Orientierung.
Das Ende meiner Laufbahn als Problemlöser
In der Anfangsphase meiner beruflichen Entwicklung habe ich immer wieder großen Ehrgeiz entwickelt, die aus meiner Sicht größten Probleme meiner Auftraggeber zu lösen. Nach einiger Zeit musste ich jedes Mal feststellen, dass die grundlegenden Probleme - wie beim Jojo-Effekt - erst weniger wurden, dann aber wieder zurückkehrten.
Meinen Tiefpunkt als "Problemlöser" erlebte ich in einem Kosteneinsparungsprojekt. In der Rolle eines Supervisors und Moderators sollte ich dafür sorgen, dass die mit dem Projekt angestrebten Ziele erreicht werden: Ein Viertel der Mitarbeiter und Führungskräfte sollte eingespart werden. Die zwei größten Probleme aus meiner Sicht waren, dass das Projekt mit der "Rasenmähermethode" durchgeführt werden sollte und die menschenverachtende Strategie zur "Entsorgung" der Mitarbeiter. Das Projektteam folgte erst meinen Empfehlungen für eine Veränderung der Umsetzungsstrategie, aber der Vorstand machte diese Veränderungen mit seinen Entscheidungen immer wieder zunichte. In der letzten gemeinsamen Projektsitzung wurde mir klar, dass das mein letztes Projekt war, in dem ich mich von dem Ziel der Lösung der Hauptprobleme leiten lassen wollte. Hieraus folgte eine grundlegende Neuorientierung meiner Beratungstätigkeit, weg von der Problemorientierung und hin zu einer gestaltenden Orientierung. Seitdem fokussiere ich mich auf Beratungsprojekte, in denen die Erreichung von etwas Neuem und Positiven für das Unternehmen das Ziel ist und in denen die Lösung vorhandener Probleme allenfalls Teil des Weges zu diesem Ziel ist.
Problemlöser oder Gestalter?
Im Gegensatz zur Problemorientierung, die von äußeren Ereignissen gesteuert wird, geht es bei der gestaltenden Orientierung darum, was man wirklich will, was einen interessiert und was einem wichtig ist. Mit der gestaltenden Orientierung erlangt man am Ende mehr von dem, was man will. Bei der Problemorientierung hat man am Ende im besten Fall weniger von dem, was man nicht will.
Was macht ein Gestalter anders?
Die ersten Fragen bei einer gestaltenden Orientierung lauten: "Was will ich? Was wollen wir?" Für viele Menschen scheint das schwer zu beantworten zu sein. Sehr häufig erzählen sie dann, was sie nicht wollen oder äußern sehr vage Wünsche. Bei weiterem Nachhaken in Richtung langfristiger, größerer Wünsche werden die Antworten eingeschränkt oder abgeschwächt mit Bemerkungen wie: "Das ist natürlich unrealistisch" oder "Ich glaube nicht, dass sowas funktioniert". Die besten Antworten auf die Frage "Was wollen wir?" sind konkret und bildhaft. Hier gilt der alte Sinnspruch: "Ein Bild sagt mehr als tausend Worte". Anders als ein abstraktes, schwer vorstellbares ist solch ein konkretes Ziel leicht zu begreifen und zu vermitteln. Es lässt in allen Köpfen annähernd dasselbe Bild entstehen. Mit Bildern ist weder eine Metapher noch sind Fantasiebilder gemeint, sondern eine konkrete, realistische Vorstellung vom Ergebnis. Der zweite Schritt bei einer gestaltenden Orientierung ist nicht etwa ein Brainstorming zu der Frage: "Wie kommen wir ans Ziel?", sondern die Beantwortung der Frage: "Wo stehen wir heute - in Relation zu diesem Ziel?" An dieser Stelle wird der Unterschied zu den Problemlösern noch deutlicher. Mit einem klaren Ziel vor Augen müssen wir uns nicht mehr um alle Probleme kümmern, sondern nur noch um diejenigen, die relevant sind für die Erreichung des Zieles. Grundlegend wichtig ist, diese Frage ehrlich zu beantworten.
Die Realität zu beschönigen oder schlimmer darzustellen, als sie ist, hilft uns nicht weiter. Die Kursbestimmung beim Segeln ist dafür ein sehr einprägsames Beispiel: Wenn der Standort auf dem Wasser nicht präzise bestimmt wird, führt der darauf aufbauende Kurs garantiert am Ziel vorbei. Die ehrliche Standortbestimmung von Unternehmen ist genauso essenziell. Wer z.B. glaubt, er selbst oder seine Mitarbeiter seien kompetenter als sie tatsächlich sind, schafft damit unrealistische Grundlagen für eine Strategie, die dann nicht den gewünschten Erfolg haben kann.
Für Gestalter ist es nicht so wichtig, von Beginn an eine genau definierte Strategie zu verfolgen bis das Ziel erreicht ist. Sie begreifen den Umsetzungsprozess als Lernprozess, in dem sich die Strategie und die erforderlichen Fähigkeiten ständig weiterentwickeln. Dies geschieht in einer immer wiederkehrenden Abfolge von vier Schritten: 1. Handeln, 2. Ergebnis 3. Bewertung, 4. Anpassung. Das heißt, die großen Anstrengungen und Teilerfolge kommen nicht etwa zu Beginn, sondern in der Endphase der Zielerreichung.
Das Pull-Prinzip
Problemlöser betrachten zuerst die Ist-Situation und leiten daraus die Ziele ab. Diese Herangehensweise folgt dem Push-Prinzip: Ohne Druck keine Veränderung. Gestalter gehen genau umgekehrt vor. Sie versuchen sich zuerst darüber klar zu werden, was sie wirklich wollen und nicht, was sie müssen. Das ist der Einstieg in das Pull-Prinzip. Die volle Wirkung des Pull-Prinzips entsteht durch das Formen einer gedanklichen Einheit aus Wunsch und Wirklichkeit sowie der Diskrepanz zwischen diesen beiden. Mit dieser Form entfaltet das Pull-Prinzip seine volle Wirkung - es funktioniert wie eine mentale "Zugmaschine". Erfolgreiche Filme, Fotografien und Musikstücke sind nach diesem Pull-Prinzip aufgebaut. Diskrepanzen und Kontraste erzeugen beim Betrachter oder Hörer eine Art mentale Spannung, die sein Interesse anzieht.
Führen mit dem Pull-Prinzip
Beim Führen mit dem Pull-Prinzip geschieht dasselbe: Die Diskrepanz zwischen Ziel und Status Quo weckt das Interesse der Beteiligten, die besten Wege zum Ziel zu finden. Die Diskrepanz wiederum wirkt wie ein Gummiband, das zwischen Ziel und Ausgangssituation gespannt ist. Die Spannung des Gummibandes lässt erst nach, wenn das Ziel erreicht ist. Für eine dauerhafte Wirkung des Pull-Prinzips müssen wir die Diskrepanz zwischen dem Ziel und dem jeweils aktuellen Ist-Zustand auf dem ganzen Weg im Auge behalten. Dies gilt umso mehr, wenn Rückschläge oder Hindernisse das Ziel in scheinbar unerreichbare Ferne rücken. Gerade dann zeigt sich die Wirkung des Pull-Prinzips als besonders hilfreich. Wer die Spannung zwischen Ist und Ziel hält, der wird nicht aufgeben. Er wird weitermachen und bereit sein, auch unkonventionelle Wege zu gehen. Diese führen wiederum zu neuen Erfahrungen und innovativen Schritten und letztendlich zum Ziel.
Herausgeber & Copyright: Johann Leitl
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