Vergleicht man das Segeln mit der Führung eines Unternehmens, so kommt man zu interessanten Erkenntnissen. Beim Segeln gibt es in der Regel einen Hafen, den man ansteuert und man weiß auch genau, von wo aus man lossegelt. Die Verbindung zwischen diesen beiden Punkten ergibt die Richtung (Kurs). Ohne Strömung und bei konstanten Windverhältnissen kommt jeder ans Ziel, der exakt nach dem Kompass steuern kann. Verschlechtern sich jedoch Wetter und Windverhältnisse, erfordert dies in der Regel eine Kurskorrektur, mehr Einsatz und den richtigen Umgang mit widrigen Bedingungen. Das Ziel bleibt dasselbe. Ganz anders läuft es in einigen Unternehmen, sobald sie in Wind und Wetter (eine krisenhafte Verschlechterung der Marktsituation) geraten. Angesichts der nötigen Kursänderung mit den daraus folgenden Anstrengungen und der Unsicherheit, ob die Ziele mit einem neuen Kurs (einer neuen Strategie) erreicht werden, entscheidet man sich lieber für ein weniger anspruchsvolles Ziel, oder sogar für einen Rückschritt.
Diese oben beschriebene Art der Unternehmensführung ist das Ergebnis einer reaktiven/responsiven Orientierung. Reaktiv/responsiv heißt, dass man Maßnahmen als Reaktion auf oder gar als Gegenwehr zu äußeren Umständen ergreift. Unternehmen werden dadurch immer mehr zu Getriebenen der Veränderung der äußeren Umstände. Strategien ergeben sich hier aus dem Abwägen von Chancen und Risiken. Vermeidung von unerwünschten Situationen oder Konflikten und Minimieren von Risiken werden zum Antrieb für das Handeln im Unternehmen. Je mehr sich dies ausbreitet, umso mehr leiden darunter die Klarheit und die Verbindung zu dem, was man eigentlich will, oder einmal wollte. Eine reaktive/responsive Orientierung kann sich auch sehr subtil äußern. Aktionen, mit denen vermeintlich die Unternehmensziele erreicht werden sollen, sind in Wahrheit nur eine Reaktion auf widrige Umstände. Deshalb ist es besonders wichtig, sensibel für die wahre Motivation hinter den Strategien zu sein.
Wir können uns entscheiden: Lassen wir unser Vorgehen weiterhin von äußeren Umständen bestimmen oder richten wir unser Unternehmen unabhängig davon an unseren höchsten Bestrebungen und tiefsten Werten aus? Deshalb lautet die erste Frage in der gestaltenden Orientierung: Was wollen wir? Vielen Managern fällt es schwer, diese Frage klar und konkret zu beantworten. Sehr häufig erzählen sie stattdessen, was sie nicht wollen oder sie äußern eher vage Ziele. Auf weiteres Nachhaken in Richtung langfristiger und anspruchsvoller Ziele werden die Antworten eingeschränkt oder abgeschwächt. Dann fallen Sätze wie: "Das ist natürlich unrealistisch", oder: "Ich glaube nicht, dass sowas funktioniert". Dabei sind die besten Antworten auf die Frage "Was wollen wir?" konkret und bildhaft. Hier gilt wirklich: Ein Bild sagt mehr als tausend Worte. Anders als ein abstraktes, schwer vorstellbares Ziel ist ein klares, konkretes Ziel leichter zu begreifen und zu vermitteln. Es lässt in allen Köpfen annähernd dasselbe Bild entstehen. Damit sind weder Metaphern noch Fantasiebilder gemeint, sondern ein bildhaft vorstellbares Ergebnis. Bei der gestaltenden Orientierung geht es nicht darum, Probleme zu beseitigen, sondern etwas Neues zu gestalten, etwas aufzubauen oder zu erneuern. Die Schritte dahin sind keine Reaktion auf die jeweiligen Umstände, sondern dienen dazu, das gewünschte Ziel zu erreichen.
Die Geschichte von einem Segeltörn zeigt gut, worin sich die beiden Orientierungen unterscheiden und welche ungeahnten positiven Folgen sich aus einer gestaltenden Orientierung ergeben können. Das Ziel war, in vier Tagen vom italienischen Festland nach Korsika und wieder zurück zu segeln. Die Insel Elba war als Zwischenstopp auf dem Hinweg eingeplant. Kurz nach Verlassen des Starthafens kam starker Wind auf und die Wellen waren bereits sehr hoch. Einige Crewmitglieder wollten lieber zurück in den sicheren Hafen. Damit wäre das Ziel des Segeltörns nicht mehr erreichbar gewesen. Die Crew entschied sich, das Ziel beizubehalten und einen neuen Kurs zu wählen. Hierfür haben sich alle, während der Fahrt so schnell wie möglich wasserdichte Kleidung angezogen, sich mit Leinen gesichert und die Segel anders gesetzt. Statt wie ursprünglich geplant, in zwei Tagen in Korsika anzukommen, hat die Crew die Insel mit dem stärkeren Wind an einem Tag erreicht. Dadurch war auf dem Rückweg Zeit für einen zusätzlichen Stopp auf einer landschaftlich und historisch interessanten Insel vor Elba. Bei der Ankunft im Starthafen war mehr erreicht, als ursprünglich geplant und die am ersten Tag bei einigen aufgetretene Übelkeit war am zweiten Tag schon wieder vergessen.
Was macht es so schwer, die Chancen zu erkennen, die in Krisen stecken? Meist ist die reaktive/responsive Orientierung so gründlich erlernt, dass uns andere, neue Verhaltensweisen zunächst "gegen den Strich" gehen. Manche Menschen kennen dazu auch gar keine Alternative. Die Geschichte mit dem Segeltörn zeigt, dass wir durch diese Prägung spontan dazu neigen, auf das zu reagieren, was uns an der krisenhaften Veränderung der Umstände stört. In der Folge passiert es schnell, dass wir unsere Wünsche als unerfüllbar aufgeben, einen Rückschlag erdulden oder in eine lange und gravierende Verschlechterung unseres Zustandes abrutschen. Dies ist umso wahrscheinlicher, je eher wir, statt eines klar motivierten Ergebniszieles, nur einen vagen, abstrakten Wunsch vor Augen haben. Damit übernehmen Ärger und Frust über das, was uns stört die Regie. In der gestaltenden Orientierung können aber genau dieser Ärger und Frust wertvolle Hinweise auf eigene mentale Grenzen liefern, die wir überwinden oder loslassen müssen. So hat der Zwang zu Homeoffice und Telefon-/Videokonferenzen in der Coronakrise vielen Führungskräften ihre mentalen Grenzen aufgezeigt. Einige Beispiele für solche Überzeugungen:
- Im Büro haben die Mitarbeiter weniger Ablenkung und können sich besser auf ihre Aufgaben konzentrieren
- Im Büro kann ich die aktuelle Stimmung bei den Kollegen besser erkennen und sofort darauf eingehen
- Bei Meetings im Büro kann ich die Aufmerksamkeit der Teilnehmer besser einschätzen
- Bei Meetings im Büro ergeben sich öfter spontane Diskussionen, an denen ich das Engagement bei den Einzelnen besser ablesen kann
Die letzten Monate haben gezeigt, dass diese Überzeugungen ihre Allgemeingültigkeit verloren haben und von neuen Erfahrungen und Erkenntnissen überholt wurden.
Typische Chancen in der Corona-Situation
Die Fähigkeit, begrenzende Überzeugungen zu hinterfragen und sie einem kritischen Reality Check zu unterziehen, öffnet den Blick für Neues, das bisher ausgeblendet wurde. So kann man bei krisenhaften Verschlechterungen der Situation neue Chancen besser erkennen. Im Folgenden auch dazu einige Beispiele:
- Projekte schnell durchziehen statt Suche nach breitem Committment: Manager, die bisher Wert darauf gelegt haben, für Veränderungen zuerst ein breites Commitment aufzubauen, können jetzt die Chance nutzen und Erfahrungen damit sammeln, Widerständen auch mal mit einem klaren Auftrag zu begegnen.
- Phasen der Konsolidierung und der Integration nutzen statt dauerhafter Anstrengung: Manager, die bisher ihre Organisation nach dem Motto "viel hilft viel" angetrieben haben, machen jetzt die Erfahrung, dass Konsolidierungs- und Integrationsphasen eingeplant werden müssen, um bleibende Verbesserungen zu erreichen.
- Kapazität für Neues schaffen: Altes steht oft dem Neuen im Weg. Jetzt besteht die Chance, unrentables Geschäft oder kritische Abhängigkeiten von Kunden leichter zu beenden.
- Erst machen, dann akzeptieren: Viele Menschen können erst durch den äußeren Druck, neue Techniken anwenden zu müssen, neue Möglichkeiten für sich entdecken.
Neben diesen allgemeinen Beispielen gibt es in jedem Unternehmen weitere individuelle Chancen, die nur durch einen offenen, unvoreingenommenen Blick sichtbar werden.
Jetzt ein Netzwerk der Gestalter aufbauen
Die Realisierung von Veränderungen, die sich aus den oben genannten Chancen ableiten, kann in einem Unternehmen umso besser vorangetrieben werden, je besser die Gestalter vernetzt sind. In vielen Unternehmen ist es eher umgekehrt: Hier sind die am besten vernetzt, die den Ist-Zustand bewahren und Veränderungen verhindern wollen. Die Erneuerer und Gestalter sind hingegen meist Einzelkämpfer, praktizieren lieber im Stillen und sind nicht sehr gut darin, auf sich aufmerksam zu machen. Deshalb ist die Unternehmensleitung aufgerufen, genug Zeit und Energie einzusetzen, um die Gestalter in ihrer Organisation zu vernetzen und ihnen mehr Raum und Aufmerksamkeit zu schenken.
Herausgeber & Copyright: Johann Leitl
- Angebot ist in Arbeit -